Die Revitalisierung von Industriebrachen ist ein bedeutendes Thema in der urbanen Entwicklung und Nachhaltigkeitsbewegung. Das Themenfeld ist auch bei den Projektentwicklern angekommen, denn häufig sind die Industrieanlagen von heute die Wohnquartiere von morgen. Den damit verbundenen Frage- und Aufgabenstellungen möchte sich die Deutsche Siedlungsbau GmbH stellen und schlägt dabei einen verantwortungsbewussten Weg ein.
Der Wandel unserer Industrielandschaften bedingt durch den Umbruch zu einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft hinterlässt seine Spuren in den Städten. Einst rege genutzte Gebäude mit stadtbildprägender Wirkung, die Orte der Arbeit, der Kommunikation und des Miteinanders waren, verschwinden aus der Stadtsilhouette.
Seit Jahrzehnten ist das Kredo neu zu bauen, statt vorhandene Substanz zu erhalten und wieder einer Nutzung zuzuführen. Zu oft und zu voreilig wurden industrielle Anlagen nach ihrer Stilllegung dem Erdboden gleich gemacht, um auf der grünen Wiese grundlegend neu zu planen. Das zerstört nicht nur die Erinnerungskultur einer Stadtbevölkerung, sondern zeigt den unverantwortlichen Umgang von einst aufwendig errichteten Bauwerken. In einem Umfeld von endlos verfügbaren Ressourcen und ausreichend Kapital war diese Haltung lange Zeit unproblematisch. Lediglich der Stempel des Denkmalschutzes konnte den Erhalt von Gebäudehüllen oder städtischen Ensembles schützen. Prominente Beispiele sind die Zeche Zollverein in Essen, das Museum Küppersmühle in Duisburg, das Kulturzentrum Kampnagel in Hamburg oder die Baumwollspinnerei in Leipzig: Viele der heute kulturell spannendsten Orte Deutschlands galten, ökonomisch betrachtet, als nutzlos.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen neubauen und umbauen musste dafür erst begriffen werden. Die sogenannte graue Energie, die sowohl in den prominenten Großbauten als auch dem einfachen Wohnhaus steckt, wurde bislang ökologisch kaum bewertet. Lediglich die Energieeffizienz wird herangezogen, die allerdings nicht den indirekten Energiebedarf darstellt: Abbau, Herstellung und Transport der Materialien; Fertigung, Bau und Installation eines Gebäudes. Eine klimagerechte Betrachtung bezieht diese Faktoren mit ein. Und dann wird offenbart, dass rund 80 Prozent der Schadstoffbilanz des Bauens im Rohbau steckt, eine Komplettentkernung und -sanierung aber nur ein Fünftel der CO2-Emissionen produziert, die ein Neubau verursacht.
Folglich darf der Erhalt sich nicht nur auf einen Teil von repräsentativen Denkmälern beschränken, sondern muss den gesamten Baubestand umfassen. Auch bei den Gebäuden, denen kaum jemand eine Träne nachweinen würde, muss geprüft werden, welche Nutzungskonzepte möglich sind. Erst danach sollten ein behutsamer Rückbau und die Wiederverwendung von Bauteilen oder Materialien geprüft werden.
Dass dies konzeptionell möglich und keine Liebhaber-Nische ist, zeigen Architekturbüros wie Lacaton & Vassal oder Werner Sobek. Die Spezialisten beweisen seit vielen Jahren, wie aus aufgegebenem Bestand Vorzeigeprojekte werden können. Selbst soziale Brennpunkte mit gesichtslosen Hochhäusern sind heute begehrte Nachbarschaften. Mit lichten Fassaden aus Wintergärten und dezenten Eingriffen in die Grundrisse und die Substanz verwandelt sich die Architektur. Dabei beschreibt Werner Sobek die Hauptaufgabe in der Erfassung des Bestandes, der sogenannten Phase Null, als größte Herausforderung. „Denn die eingesetzten Materialien sind im Tragwerksbereich oft deutlich länger nutzbar als in der auf 30 bis 50 Jahre beschränkte Gebäudelebensdauer.” Deshalb sollte die Um- und Weiternutzung des Bestands immer zuerst geprüft werden.
„Insbesondere die Industriegebäude sind in ihren Strukturen oft massiv und gut gebaut, um den Anforderungen der Industrie standzuhalten,“ beurteilt Joachim Gulden die Grundlage, die er in Wunstorf auf dem Fabrikgelände einer ehemaligen Iglo-Fabrik vorgefunden hat: „Das macht sie andererseits besonders wertig.“ Statt die Gebäude allesamt abzureißen und die gebundene, graue Energie zu verschwenden, können ganze Bauteile wiederverwendet werden, um neue Zwecke zu erfüllen. Dies reduziert den Bedarf an neuen Baumaterialien und minimiert den ökologischen Fußabdruck. Bereits zu Beginn des Projektvorhabens in Wunstorf hat der verantwortliche Projektentwickler Deutsche Siedlungsbau GmbH ein Untergeschoss ausfindig gemacht, das sich für eine Nutzung als Tiefgarage eignet.
Für den Projektleiter der Neuen Mitte Wunstorf GmbH, die auf dem Gelände eine Wohnbebauung plant, ist der Weg klar: „Wir müssen uns den Bestand ganz genau ansehen.“ Zusammen mit der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus soll unter der Leitung von apl. Prof. Angelika Mettke, die über 40 Jahre Erfahrung auf dem Fachgebiet bauliches Recycling mitbringt, geprüft werden, ob ganze Produktionshallen oder einzelne Bauteile demontiert und an anderer Stelle für eine Nachnutzung wieder aufgebaut werden können.
Daneben sollen aber auch einzelne Bauteile einer alternativen Nutzung auf dem Grundstück zugeführt werden. Stahlbetonstützen können als Streifenfundamente verwendet werden. Eine Menge Beton, Stahl, Glas und andere Baumaterialien können für einen Wiedereinbau aufbereitet werden, anstatt auf einer Deponie zu landen. Teile, die nicht komplett zweitgenutzt werden können, werden als Beton-Recyclingmaterial beispielsweise im Straßenunterbau, in Sauberkeitsschichten und im Lärmschutzbauwerk untergebracht. Die nötige Erfahrung holt sich die Deutsche Siedlungsbau GmbH mit dem Nachhaltigkeitspionier Werner Sobek ins Haus.
Mit dieser zweigleisigen Strategie der Nachnutzung und Wiederverwendung von Bauteilen soll es gelingen, auf dem Areal mit mehr als 150 Jahren gelebter Industriegeschichte nachhaltig und lebenswerten Wohnraum zu entwickeln. Das Gelingen dieses Vorhabens hängt allerdings nicht nur an Aspekten der Nachhaltigkeit. Auch die politischen Rahmenbedingungen müssen für diesen Weg gegeben sein. Revitalisierungsprojekte fernab der Großstädte stellen eine große Herausforderung dar. Neben der fehlenden strukturellen Förderung von Vorhaben dieser Art ist es vor allem die Überzeugungsarbeit, die bei den lokalen Akteuren geleistet werden muss.
Die Revitalisierung von Bestandsgebäuden ist eine nachhaltige und zukunftsweisende Strategie in der urbanen Entwicklung. Sie trägt enorm zur Reduzierung von Abfällen, zur Einsparung von Ressourcen und zur Erhaltung des kulturellen Erbes bei. Die Beispiele erfolgreicher Projekte auf der ganzen Welt zeigen, dass dies nicht nur ökologisch, sondern auch wirtschaftlich und kulturell sinnvoll ist. Die Herausforderungen, die mit solchen Projekten einhergehen, können durch Zusammenarbeit und Innovation überwunden werden. Wir haben die Möglichkeit, unsere Städte nachhaltiger und lebenswerter zu gestalten und gleichzeitig die Geschichte und Identität dieser Orte zu bewahren.
– Joachim Gulden